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„Individuelles Lerncoaching wird eine zentrale Rolle spielen“

November 2022: bpv-Umfrage zur Pandemie-Belastung

Der bpv hat im November 2022 seine Mitglieder zu den Themen Gesundheit und Brückenklassen befragt. Die Ergebnisse wurden am 24.11.2022 der Öffentlichkeit vorgestellt und fanden bei Zeitungen, Radio und Fernsehen großes mediales Interesse. Die Auswertung der fast 3.000 Rückmeldungen zeichnete ein differenziertes Bild des Schulbetriebs. Die Umfrage-Ergebnisse zur Schülergesundheit befinden sich als Grafiken hier zum Nachlesen

Wie sich die psychosozialen und kognitiven Auswirkungen der von Corona geprägten Schuljahre bisher entwickelt haben, bilanzieren die beiden Experten Regina Knape, Schulpsychologin in Coburg und an der Staatlichen Schulberatungsstelle Oberfranken, und Michael Lilla, Beratungslehrer am Otto-von-Taube-Gymnasium Gauting, im Interview mit der bpv-Verbandszeitschrift "Das Gymnasium in Bayern". Sie berichten aus der Praxis und machen konkrete Vorschläge, mit welchen Maßnahmen die Schulen unterstützt werden können:

 

Interview: „Individuelles Lerncoaching wird eine zentrale Rolle spielen“

 

GiB Wie geht es den Schülerinnen und Schülern nach den Pandemie-Jahren?

R. Knape Die Pandemie hat viele Schülerinnen und Schüler zurückgeworfen. Viele sind psychisch belastet bis gefährdet, eine seelische Erkrankung zu entwickeln und sie sind zum Großteil nicht so leistungsfähig. Ein Normalzustand an den Schulen ist bislang nicht eingetreten. Im Gegenteil. Daher müssen fachliche und pädagogische Stützmaßnahmen weiterlaufen und die psychische Gesundheit muss in der Schule einen größeren Platz und Stellenwert haben.

 

GiB Was brauchen die Schulen, um den betroffenen Schülerinnen und Schülern zu helfen?

M. Lilla Um den vorherrschenden Dauerkrisenmodus an den Schulen zu bewältigen, braucht es einen langen Atem, insbesondere Zeit, Geduld und die nötigen Ressourcen. Nur ein sich für alle Beteiligten normalisierender Schulalltag legt den Grundstein für kommende, nachhaltige Erfolge. Individuelles Lerncoaching, unkompliziert und zielführend verankert im Schulalltag, wird in der nächsten Zeit eine zentrale Rolle spielen. Hier bedarf es einer massiven Unterfütterung mit Geld- und Personalmitteln.

R. Knape Das kann ich nur unterstreichen! Die Schulen benötigen weiteres zusätzliches Personal zur Unterstützung, das zusammen mit den Lehrkräften Lernrückstände, Motivations- und Verhaltensprobleme der Schülerinnen und Schüler abzufedern hilft.

 

GiB Und wie haben sich die Auswirkungen der Pandemie bei den Lehrkräften entwickelt?

R. Knape Die meisten Lehrkräfte üben ihren Beruf aus Überzeugung aus und schauten bei ihrem „Rundum-Einsatz“ in den letzten Jahren nicht auf die Uhr, selbst jetzt nicht, in den stark herausfordernden Brückenklassen, wo ein Gutteil des Unterrichts aus Krisenmanagement besteht. Aber diese chronische Überlastung kann mental erschöpfen und körperlich krank machen.

 

GiB Was kann betroffenen Lehrkräften in der aktuellen Situation helfen?

R. Knape An den bayerischen Schulen verankert und gut bekannt ist das schulinterne Beratungssystem der Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen. Wie die bpv-Umfrage von November 2022 ergeben hat, können sich viele Lehrkräfte bei beruflichen Fragen vertrauensvoll direkt an ihre örtlichen Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen wenden. So positiv dies ist, so erforderlich werden weitere Zeitressourcen sein für Beratung und professionelle Unterstützung der Lehrkräfte und Schulleitungen.

 

GiB Wie können Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen Lehrkräfte konkret unterstützen?

M. Lilla Lehrkräfte wie Schulleitungen können bei den ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen zielführende Unterstützung sowie fachliche Hilfe bei pädagogischen Fragen erhalten, z.B. bei der Vorbereitung von (Eltern-) Gesprächen, Klassenelternabenden, bei schwierigen Schullaufbahnberatungen, bei der spezifischen Einzelfallbetreuung, bei der Organisation von innerschulischen Fortbildungen wie beispielsweise zur Lehrergesundheit und bei persönlichen Themen, etwa zur Burnoutprävention.

GiB Vielen Dank für das Gespräch!


 

Interview: „Die Pandemie ist auch eine psychosoziale Krise“

Februar 2022 - Halbjahresbilanz zur Corona-Pandemie

In einer Online-Befragung hat der bpv zum Halbjahr des Schuljahres 2021/22 erfasst, wie die Lehrkräfte in Bayern die aktuelle Situation empfinden. Schulpsychologin Regina Knape ordnet die Ergebnisse im Interview mit der bpv-Verbandszeitschrift "Das Gymnasium in Bayern" ein:

 

GiB Welches Ergebnis der bpv-Umfrage hat Sie am meisten überrascht?

R. Knape Überrascht haben mich die Ergebnisse weniger, vielmehr bestätigt sich, was wir täglich in der Beratung und in Gesprächen mit Eltern, Lehrkräften und Schulleitern sehen und hören: die Pandemie ist auch eine psychosoziale Krise. Ihre zum Teil erheblichen Folgen im Bereich der Schule treten zunehmend hervor und werden wohl längerfristig beachtet und begleitet werden müssen.

 

GiB Viele Lehrkräfte sehen eine Verschlechterung bei den psychosozialen Problemen der Schüler im Vergleich zum letzten Schuljahr, die große Mehrheit sieht bei 1 bis 6 jungen Menschen pro Klasse „massive Beeinträchtigungen durch Corona“. Deckt sich diese Wahrnehmung mit den Beobachtungen der Schulpsychologinnen und -psychologen in Bayern?

R. Knape Ja, wobei ich annehme, dass die Dunkelziffer der stark belasteten und hilfebedürftigen Kinder und Jugendlichen vielleicht noch höher ist. Klinische Studien sprechen von einer Verdreifachung der psychiatrischen Symptomatiken in den letzten Monaten und diese fallen meist nicht oder erst spät auf – etwa die Onlinespielsucht, Jugenddepression, Selbstverletzung oder Suizidalität. Wir sehen in der schulpsychologischen Beratung jetzt auch vermehrt Schülerinnen und Schüler, die in ihrer Schullaufbahn bislang nicht aufgefallen sind, im Gegenteil, die als stabil und leistungsstark galten. Nun verstehen ihre Eltern die Welt nicht mehr, weil ihre Kinder extreme Motivationsprobleme, soziale Probleme und Ängste entwickelt haben. Seit Beginn des Schuljahres, in dem wir durchgehend in Präsenz sind, zeigen sich bei überdurchschnittlich vielen Schülerinnen und Schülern zudem ausgeprägte Schwierigkeiten in der Konzentrations- und Selbstmotivationsfähigkeit. Selbst Schülerinnen und Schüler, die eigentlich gut durch die ersten eineinhalb Krisenjahre gekommen sind, die Spaß hatten am digitalen Distanzunterricht und fürsorglich begleitet waren von ihren Eltern, kommen nun erschöpft, resigniert und häufig mit Sinnkrisen in die Beratung. Immer mehr benötigen dringend einen stationären Klinikaufenthalt zur Stabilisierung, zum Beispiel schulabsente Jugendliche, die einen Einbruch erlebt, die Struktur verlernt haben und „ausgestiegen“ sind.

 

GiB Viele der Befragten wünschen sich deshalb mehr Stunden für Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Beratungslehrkräfte.

R. Knape Das spiegelt den großen Bedarf an Beratung und Unterstützung, der sich auch schon in der ersten Umfrage des bpv im Sommer 2021 abzeichnete. Wir möchten Langzeitschäden für einzelne Betroffene möglichst verhindern und die Leistungsfähigkeit des Schulsystems insgesamt mit erhalten helfen. Dem kontinuierlich steigenden Bedarf, den manchenorts explodierenden Fallzahlen, den akuten subklinischen Notfällen oder der nötigen Vernetzung im multiprofessionellen Team könnten wir mit einem zusätzlichen Budget gerecht werden. Nicht zuletzt für die Unterstützung der seit zwei Jahren und wohl weiterhin extrem in Anspruch genommenen Lehrkräfte und Schulleitungen braucht es ein Plus an Tätigkeitstunden. Das haben die Kollegen und Kolleginnen über die Umfrage bestätigt. Sicherlich wären auch mehr Schulsozialpädagoginnen und -pädagogen an den Gymnasien sinnvoll. Sie sind dort, wo vorhanden, für uns wichtige Kooperationspartner und haben sich auch über den Ganztag hinaus mit ihren Angeboten zum sozialen Lernen und Miteinander bewährt. Die von den Befragten gewünschten Angebote zur Resilienz – z.B. STARK, Gemeinsam Klasse sein, s. ISB-Handreichung „Resilienzförderung in der Schule“ – könnten sicherlich unser aller Aufgabe sein. Doch auch jede Lehrerin, jeder Lehrer trägt dazu bei, die Schülerinnen und Schüler zu stärken, etwa durch eine gute Strukturierung des Unterrichts, durch Ermutigung, positive Fehlerkultur, Gespräche über Krisen in der Geschichte und wie sie bewältigt werden konnten, durch Zuversicht und Beruhigung, durch alles, was den jungen Menschen Identität und Zugehörigkeit zu ihrer Schule vermittelt.

 

GiB Auch die Lernrückstände der jungen Menschen werden von 73 Prozent der Befragten als groß bzw. sehr groß eingeschätzt. Schlägt das Thema auch bei den Schulpsychologinnen, Schulpsychologen und Beratungslehrkräften auf?

R. Knape Im Distanzunterricht sind bei den meisten Schülerinnen und Schülern Lerndefizite, insbesondere auch sprachliche, entstanden. Ein gravierendes Ausmaß sehen wir in Klasse 5 und 6, eine große Herausforderung für die Lehrkräfte. Psychosoziale Belastungen hemmen zusätzlich die Aufnahmefähigkeit, erschweren Abspeicherungsprozesse im Gehirn, das Abrufen von Wissen in Prüfungen. Ein Großteil unserer Klienten leidet unter einer Mischung von Erschwernissen, die häufig in Lerndefiziten ihren Anfang nimmt und zu Misserfolgen, Prüfungsangst und Selbstwertproblemen führen kann.

 

GiB In der Umfrage zeigt sich auch eine hohe emotionale Belastung der Lehrerinnen und Lehrer. Die größten Stressfaktoren sind der Zeitmangel (80 Prozent) und die sich häufig ändernden Regelungen (84 Prozent). Sie leiden zudem unter unmittelbarer digitaler Erreichbarkeit (65 Prozent), Lernrückständen bei den Schülerinnen und Schülern (58 Prozent) und der eigenen Erwartungshaltung (61 Prozent). Was können die Kolleginnen und Kollegen ad hoc tun, um ihr Stresslevel zu reduzieren – haben Sie Tipps?

R. Knape Die Umfrageergebnisse zeigen, dass es vor allem die neuen, durch die Corona-Zeit entstandenen Belastungen sind, die jetzt zu Buche schlagen. Auch sehr widerstandsfähige Lehrkräfte und Schulleitungen kommen mittlerweile ans Limit. Allgemein gültige Tipps zur Abhilfe gibt es zwar nicht. Allerdings gibt es gute Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen Ansätzen der Stressreduktion. Viele Lehrkräfte entlastet es, wenn ihre Dienstvorgesetzten vorangehen, indem sie realistische Ziele für die nächste Zeit formulieren, keine Höchstleistungen erwarten, sondern Besinnung auf das Kerngeschäft. Andere profitieren von einer Fallberatungs- bzw. Supervisionsgruppe oder einem AGIL-Kurs („Arbeit und Gesundheit im Lehrerberuf“), wiederum andere von einem individuellen Coaching oder einer Einzelsupervision. Informationen zu letzterem gibt es bei Schulpsychologinnen und -psychologen oder den Beauftragten für Lehrergesundheit an den staatlichen Schulberatungsstellen. Weil sich manche Aufgaben nicht einfach abstellen oder delegieren lassen, möchte ich empfehlen, zumindest die (digitale) Erreichbarkeit abends frühzeitig und beherzt zu beenden. Selbst ganz kurze Pausen – konsequent eingestreut in den dichten Unterrichtstag – wirken stressreduzierend.

 

GiB Und was könnten oder müssten Politik und Kultusverwaltung ändern?

R. Knape Für alle Schulleitungen braucht es – über die Würdigung hinaus – spürbare Entlastungen und mehr Leitungszeit, für die Lehrkräfte eine baldige Befreiung von den, mittlerweile fast täglichen, Schülertestungen, eine Reduktion der Anzahl der Leistungserhebungen und eine – zumindest temporäre – Entlastung des Lehrplans. Für die Schülerinnen und Schüler: flexible Fördermöglichkeiten, angeleitete Lerngruppen für alle Begabungsniveaus und nicht zu vergessen finanzielles Engagement der Kommunen für außerschulische Förderangebote, Betreuung und soziale Stärkung. Und zur Aufarbeitung der Pandemiefolgen und zur Entwicklung von konkreten Perspektiven für die nächsten Jahre und die Schule nach der Corona-Krise wäre die Einberufung eines Expertenrates aus Wissenschaft und Praxis wünschenswert.

GiB 16 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichten in der Umfrage zudem von Bedrohungen durch Querdenker und Corona-Leugner an der eigenen Schule. Erreicht dieses Thema auch Ihre Beratungpraxis?

R. Knape Ja, seit der Masken- und Testpflicht werden uns über Lehrkräfte oder Mitarbeiter der Jugendämter Kinder von Corona-Leugnern genannt, die aufgrund der Haltung ihrer Eltern nicht zur Schule gehen dürfen, seit Monaten viel Unterricht versäumen und zu Hause sich selbst überlassen sind. Schullaufbahnprobleme, kognitive wie soziale Entwicklungsgefährdungen sind absehbar. Auch die Beratung von Schulleitungen, die sich mit Plakaten, Flyern, Gebäude-Schmierereien, zeitaufwändigen Bußgeldverfahren bis hin zu Drohbriefen konfrontiert sehen, gehört zu unserem Alltag.

GiB Vielen Dank für das Gespräch!


 

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