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bpv-Faktencheck 2.0: Studienlage zu unangekündigten Leistungsnachweisen

Am 5. und 6. April fanden in Nürnberg und München groß angekündigte Kundgebungen statt, die die Abschaffung von unangekündigten Abfragen und Stegreifaufgaben forderten. Im Rahmen der Berichterstattung wurde im BR-Artikel „Exen: Laut Studien spricht nichts für unangekündigte Tests“ auf eine 2022 durchgeführte Studie von Ludwig Haag, Thomas Götz u.a. verwiesen, wonach die Ankündigung von schriftlichen Leistungsnachweisen sowohl Angst- und Stressgefühle bei Lernenden verringere als auch zu signifikant besseren Noten und Lernergebnissen führe. Abgesehen davon, dass darin die bpv-Position undifferenziert und irreführend wiedergegeben wird – wir haben uns im September in einem Faktencheck für ein liberales, am pädagogischen Ermessen orientiertes Vorgehen und für die pädagogische Freiheit der Lehrkraft eingesetzt – erweckt dieser Artikel den Eindruck, das Befürworten unangekündigter kleiner Leistungsnachweise sei durch keine wissenschaftliche Grundlage gestützt.

Die Studie von Haag u.a. ist allerdings in Bezug auf die Fragestellung wenig aussagekräftig, in Teilen wissenschaftlich fragwürdig und blendet wichtige Teilaspekte aus: 

  • Die Studie hat eine äußerst geringe empirische Basis, sie konzentriert sich auf Lerngruppen an einem einzigen (!) Hamburger Gymnasium in einem einzigen Schuljahr. Es werden dabei in Bezug auf lediglich 19 Lerngruppen das Stressempfinden vor angekündigten und nicht angekündigten Tests in drei Lernfächern (Wirtschaft, Erdkunde, Politik) verglichen sowie die erreichten Noten.
  • Im ersten Halbjahr wurden nicht angekündigte Tests geschrieben, im zweiten Halbjahr angekündigte. Die Tests im 2. Halbjahr fielen um einen halben Notengrad besser aus. Es wurden aber keine standardisierten Tests verwendet, sondern die Gestaltung völlig den Lehrkräften überlassen, so dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, welche Aussagekraft die Noten hinsichtlich zu erreichender Kompetenzstände hatten.
  • Dass angekündigte Tests in der Regel besser ausfallen als unangekündigte, liegt auf der Hand, die Frage ist allerdings, ob sich darin auch ein höherer Kompetenzstand spiegelt oder nur das Ergebnis einer kurzfristigen Lernleistung.
  • Außerdem ist es so, dass Schülerleistungen an fast allen Schularten im zweiten Halbjahr besser sind als im ersten, weil die Lernenden vor dem Schlusszeugnis bestrebt sind, schlechtere Anfangsleistungen auszugleichen bzw. ein Sitzenbleiben zu verhindern. Dieser mögliche Effekt wurde in der Studie überhaupt nicht berücksichtigt.
  • Besonders stark gegen die Studie spricht überdies, dass sie in Hamburg durchgeführt wurde, wo normalerweise unangekündigte schriftliche Leistungserhebungen nicht vorgesehen sind. Die Hamburger Schüler hatten deshalb im Gegensatz zu bayerischen Schülern überhaupt keine Erfahrung mit dieser Prüfungstradition, was mit Sicherheit die Abfrage des individuellen Stressempfindens negativ beeinflusst hat. Die Studie war daher nur mit dem Einverständnis der Eltern möglich.

Stattdessen plädiert der bpv dafür, auch andere Studien als die eine in den Blick zu nehmen: 

  • Jahrzehntelange Forschung, etwa bei Björk und Björk (1992) in "A New Theory of Disuse and an 
    Old Theory of Stimulus Fluctuation“ und die nachfolgenden Studien, zeigt, dass unangekündigte Tests primär die momentane Abrufstärke messen. Sie können, richtig eingesetzt, zu einer Steigerung der Speicherstärke führen. Kurz gesagt: Wiederholtes Abfragen bzw. Abrufen fördert langfristiges Lernen – insbesondere, wenn es regelmäßig und niedrigschwellig erfolgt.

  • Das Ziel unangekündigter Tests ist nicht, exakte Nachbildung aller zukünftigen Lebenssituationen zu sein, sondern Lerngewohnheiten zu fördern, die eine dynamische, flexible und langfristige Wissensfestigung ermöglichen. Studien wie Björk & Björk, 1992 und neuere Befunde von Murphy, Little und Björk, 2023 in “The value of using tests in education as tools for learning“ zeigen, dass gerade das wiederholte, auch mal überraschende Abrufen zur Steigerung der nachhaltigen Speicherstärke beiträgt. Die Berufswelt mag selten unangekündigte Prüfungen liefern, aber überall dort, wo Innovation gefragt ist, zählt die Fähigkeit, unter unerwarteten Bedingungen flexibel auf Abrufwissen zuzugreifen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Forschung, wie sie vor allem von Björk & Björk und deren Nachfolgestudien präsentiert wird, spricht eine differenzierte Sprache: Unangekündigte Tests sind keineswegs per se wertlos – bei kluger Anwendung können sie den Grundstein für nachhaltiges Lernen legen. 

Deshalb sprechen wir uns dafür aus, in Hinblick auf die Herausforderungen zunehmender Individualisierung eine große Offenheit zu bewahren und mit Augenmaß an der Weiterentwicklung der Prüfungskultur gemeinsam zu arbeiten. Statt mit einer Abschaffung unangekündigter Stegreifaufgaben und Abfragen eine isolierte Einzelmaßnahme zu fordern, sind wir für ein weiterentwickeltes und stimmiges Gesamtkonzept, bei dem vor allem auch die Zahl der Schulaufgaben kritisch beleuchtet wird.

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