Bürokratie erscheint derzeit auf vielen Ebenen wie die Wurzel fast allen Übels. Sie gilt als Hemmschuh für Effizienz und Innovationen. Deshalb wird und wurde ihr der Kampf angesagt. Was würde nicht alles besser, würde man ihr Herr und könnte sie abbauen oder ganz beseitigen?
Die Wirtschaft würde wieder zu boomen beginnen. Von Leistungserhebungen entlastete und dadurch motivierte Schülerinnen und Schüler würden von entspannten Lehrkräften besser unterrichtet werden, denn Lehrkräfte hätten von unnötigen Verwaltungsaufgaben erleichtert wieder Zeit für ihre eigentlichen Kernaufgaben. Eine zufriedene Bevölkerung würde mit Freude einfache digitale Anträge stellen oder am besten gar keine mehr zu stellen brauchen, weil sowieso alles genehmigt würde. Ein wolkenloses sonniges Paradies - oder gäbe es dort auch Schattenseiten?
Bürokratie an sich ist nichts Schlechtes. Sie beschreibt, wie wichtige Vorgänge im Staat ablaufen. Gesetze, Verordnungen und Vorschriften bestimmen das Handeln der Verwaltung. Verwaltungstätigkeiten werden von Menschen nach einheitlichen Vorgaben und innerhalb festgelegter Strukturen zum Schutz der Gesellschaft und einzelner Personen ausgeübt. Es geht also um regelbasiertes Arbeiten statt Willkür, Vetternwirtschaft, Zufall oder Anarchie.
In die Kritik gerät die Bürokratie dann, wenn es zu viele und zu komplizierte und hemmende gesetzliche Regelungen gibt, die es zu erfüllen gilt. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Datenschutzgrundverordnung der EU und ihre Umsetzung in Landesrecht. Zusätzlich tragen Kompetenzgerangel, mangelhaftes einheitliches Zusammenwirken und unzureichende digitale Vernetzungen zwischen den Verwaltungseinrichtungen auf allen Ebenen des Staates in Bund, Ländern und Kommunen dazu bei, den Bürokratiewahnsinn zu vergrößern. Aktuelle Beispiele dafür sind im schulischen Bereich in der Umsetzung des Startchancenprogramms des Bundes und des Digitalpakts 2.0 zu verfolgen. Besonders beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die “Initiative für einen handlungsfähigen Staat” um die früheren Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) sowie die Medienmanagerin Julia Jäkel und den früheren Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle. Deren Vorschläge laufen auf eine umfassende Neuordnung der Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen hinaus.
Es gibt also derzeit zu viel überflüssige und hemmende Bürokratie. Entbürokratisierung heißt, Abläufe und Verfahren zu vereinfachen, wo sie zu vereinfachen sind - ohne den Sinn und Zweck von Regelungen zu untergraben. Ziele im öffentlichen Dienst sind besonders die Vereinfachung von Arbeitsprozessen, Schaffung von Freiräumen für Kernaufgaben und die Verbesserung der Qualität von Dienstleistungen. Es geht also darum, überflüssige Regelungen zu identifizieren und aufzuheben, Prozesse zu digitalisieren und Schnittstellen zu vereinfachen.
Doch das ist kein einfaches Unterfangen. Es ist deutlich leichter Bürokratie auf- als abzubauen. Der Ruf nach einheitlichen Regelungen, die zum Beispiel das Kultusministerium auf einzelne Anfragen hin erlassen möge, oder der Gang zu den Verwaltungsgerichten, wenn der subjektive Eindruck besteht, staatliches Handeln richte sich gegen persönliche Interessen, bedingt eine zunehmende Verrechtlichung staatlichen Handelns und beschneidet pädagogische und sachgerechte Entscheidungen im Einzelfall.
Wir befinden uns also im Spannungsfeld Kulanz versus Kontrolle, Vertrauen versus Verrechtlichung - und das nicht nur auf der großen Ebene der Gesetze und Verordnungen, sondern auch innerhalb der Bürokratie, die sich die Dienststellen, die Einzelschulen selbst auferlegen. Vor Ort sollte gemeinsam eine Vereinfachung von Abläufen oder Prozessen angegangen werden, um effizienter zu arbeiten. So könnten eine Reduzierung und Verschlankung von schulinternen Informations- oder Kontrollpflichten und eine Reduzierung/Konzentration von Sitzungen helfen, die Ressource “Arbeitszeit und Arbeitskraft von Lehrkräften” zu schonen. Man sollte anfangen, in Einzelfällen loszulassen und zu entbürokratisieren. Dabei darf das gegebene Vertrauen nicht missbraucht werden.
Dokumentations- und Berichtspflichten gegenüber Schulleitungen und Ministerialbeauftragten wie zum Beispiel umfassende Sitzungsprotokolle, Respizienzen, Gefährdungsbeurteilungen für Unterricht und Schülerfahrten sollten auf den Prüfstand: Brauchen wir ausführliche Sitzungsprotokolle oder reichen in der Regel Ergebnisprotokolle? Müssen wirklich alle Schulaufgaben und schriftliche Arbeiten anlasslos respiziert werden? Sind Gefährdungsbeurteilungen für den Unterricht und Schülerfahrten wirklich zwingend nötig? Muss jede Einzelnote verwaltungsrechtlich formal gesichert sein? Korreliert die Zahl der schriftlichen Leistungserhebungen mit dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler? Wie bürokratisch und hierarchisch muss ein Beurteilungssystem ausgebaut sein?
Der Abbau von Bürokratie braucht einen langen Atem. Kurzfristig können Einzelmaßnahmen umgesetzt werden, die wenig bis keine Haushaltsmittel benötigen, komplexe Softwarelösungen dauern länger. Und es muss immer bedacht werden, dass notwendige Kontrollen und rechtliche Vorgaben dabei nicht vernachlässigt werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die dienstrechtliche Änderung im Ersten Modernisierungsgesetz Bayern zum Wegfall der Nebentätigkeitsgenehmigung und sogar der (bundesrechtlich vorgeschriebenen) Anzeigepflicht unter bestimmten Voraussetzungen in Zeiten des Fachkräftemangels im öffentlichen Dienst wirklich zielführend ist. Ebenso bleibt abzuwarten, wie die dort vorgesehene Möglichkeit eines Verzichts auf die amtsärztliche Einstellungsuntersuchung und deren Ersatz durch einen Selbstauskunft-Fragebogen ausgearbeitet werden wird. Wird dadurch nicht eventuell neue Bürokratie erzeugt oder die Verantwortung auf andere Ebenen, im schlimmsten Fall auf den Bewerber allein, verlagert?
Fangen wir mit dem Abbau von Bürokratie in kleinen, kontinuierlichen Schritten an, indem alle Beteiligten an einem Strang und in die gleiche Richtung ziehen. Schaffen wir verlässliche Rahmenbedingungen und darin die pädagogischen Freiräume. Bündeln wir die Kräfte für Wesentliches, um Freiheit für das Kerngeschäft zu erhalten. Lernen wir, mit einem gewissen "Kontrollverlust" zu leben. Geben wir den Lehrkräften als Experten für Lehren und Lernen einen Vertrauensvorschuss. Missbrauchen wir den gegebenen Vertrauensvorschuss nicht. Handeln wir dann, wenn etwas fragwürdig oder problematisch sein könnte, statt prophylaktisch zu kontrollieren. Überlegen wir, wo Weniger Mehr ist - auf dem Weg zu weniger Regulierungs-, dafür mehr Vertrauens- und Wertschätzungskultur!