Stellen Sie sich vor, Sie stempeln sich beim Betreten des Schulhauses ein und beim Verlassen wieder aus. Wenn Sie im häuslichen Büro schul- und unterrichtsbezogene Tätigkeiten ausüben, starten Sie die Zeiterfassung per App und stoppen dann wieder, wenn Sie unterbrechen.
Nach 10 Stunden täglicher Arbeitszeit hören Sie auf zu arbeiten, um dann mindestens elf Stunden zu ruhen. Wenn Sie am nächsten Tag um 7:30 den Arbeitstag im Schulhaus starten, waren Sie am Vorabend spätestens um 20:30 mit Korrekturen und Vorbereitungen fertig oder haben damit aufgehört. Wenn Sie an Sonn- oder Feiertagen korrigieren oder Unterricht vorbereiten, brauchen Sie dafür laut Bayerischer Arbeitszeitverordnung die Anordnung des Kultusministeriums oder von ihm ermächtigter Behörden (MBs oder Schulleitung). Um Ihre 30 Tage Urlaub in Anspruch zu nehmen, stellen Sie bei der Schulleitung Urlaubsanträge - Voraussetzung für die Genehmigung ist natürlich, dass die Urlaubstage in den Schulferien liegen.
Das wären denkbare Konsequenzen aus den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019 und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom September 2022. Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann, um Beschäftigte vor Überlastung und unbezahlter Mehrarbeit zu schützen. Im April 2023 legte das dafür zuständige Bundesarbeitsministerium einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor und stellte auf Nachfrage der damaligen KMK-Präsidentin klar: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gelte auch für Lehrkräfte, egal ob verbeamtet oder angestellt.
Seitdem ist es auf Gesetzgebungsebene ruhig geblieben. Die zuständigen Kultusministerien der Bundesländer zögern. Keines hat bisher ein entsprechendes System für Lehrkräfte eingeführt. Das Problem ist die Zwitterstellung von Lehrkräften (wie auch von Wissenschaftlern und anderen Gruppen): Es gibt zum einen die gebundene Arbeit im Unterricht an der Schule vor Ort und zum anderen die häusliche Vertrauensarbeitszeit. Es gibt Arbeiten, die zeitlich leicht messbar, und andere, die nicht genau oder nur schwer erfassbar sind.
Im Hintergrund rumort es. Es sind etliche Aktivitäten unterschiedlicher Interessengruppen mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Grundannahmen zu beobachten. Die Ambivalenz besteht darin, ein Gerichtsurteil, das Arbeitnehmerrechte stärkt und schützt, so auszugestalten, dass es dem Lehrberuf auch gerecht wird und sich nicht als Pyrrhussieg erweist.
In Baden-Württemberg haben zwei Gymnasiallehrkräfte Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingereicht. Sie stehen exemplarisch für diejenigen, die bisher schon freiwillig, händisch oder per App, ihre Arbeitszeit dokumentiert haben und zu dem Ergebnis kommen, dass sie zu viel arbeiten. Mit einer allgemeinen Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit der Lehrkräfte verbindet sich für sie die Hoffnung auf Abbau von außerunterrichtlichen Pflichten im Arbeitsalltag und die Überzeugung, dass eine Verringerung der Arbeitszeit erfolgen muss.
Das wäre die logische Konsequenz, die sich allerdings schon aus vielen durchgeführten Studien der vergangenen Jahre zur Belastung und zur Arbeitszeit der Lehrkräfte, differenziert nach Schularten, hätte ergeben müssen. Passiert ist zu Zeiten des Lehrkräfteüberhangs nichts. Daher stellt sich nun die Frage, wie diese Arbeitszeitentlastungen in Zeiten von Fachkräfte- und Lehrermangel in der Realität erfolgen und aussehen sollten. Lehrkräfte hätten zum Beispiel das Recht, die erfassten Überstunden bei Begleitung mehrtägiger Klassenfahrten nachträglich abzubauen. Wie soll das gehen? Um Unterrichtsdeputate abzusenken, worauf die meisten hoffen, fehlen die Lehrkräfte. Bleiben die unterrichtsfremden Aufgaben wie Verwaltungsaufgaben, Konferenzen, Elternarbeit, Aufsichten, die Organisation von Veranstaltungen etc. Hier könnten Schulverwaltungsassistenzen, Lehramtsstudierende oder auch Fachpersonal für multiprofessionelle Teams Abhilfe schaffen. Aber auch da gibt es den Mangel.
In der Frage des Arbeitszeitmodells könnte eine Zeiterfassung grundlegende Änderungen nach sich ziehen. Denn: Um die erfasste Arbeitszeit, also die Ist-Arbeitszeit, in einen Kontext zu stellen, bedarf es des Vergleichs mit einer Soll-Arbeitszeit. Das gängige Deputatsmodell bezahlt Lehrkräfte vor allem nach erteilten Unterrichtsstunden und grob definierten Zeiten für unterrichtsnahe Tätigkeiten (wie Vor- und Nachbereitung des Unterrichts). Wenn der Arbeitgeber gezwungen ist, 100 Prozent der Arbeitszeit zu erfassen und damit auch 100 Prozent der Arbeitszeit mit den Soll-Arbeitszeiten abzugleichen, könnte das Deputatsmodell zu kurz greifen. Eine Arbeitszeiterfassung könnte also Transparenz schaffen und eine Diskussion darüber in Gang setzen, welche Tätigkeiten tatsächlich von Lehrkräften übernommen werden sollten. Fielen diese Tätigkeiten weg, weil sie von anderen Berufsgruppen übernommen werden - (nur wo sind die?), bliebe mehr Zeit für den Unterricht und die Unterrichtspflichtzeit könnte hochgesetzt werden. So erhielte man in Zeiten des Lehrermangels mehr Lehrkräfte, die vor den Klassen stehen.
Das ist auch der Tenor und die Intention von Mark Rackles (Bildungsexperte und früherer Berliner Staatssekretär, der sich in diesem Amt - Achtung Ironie - als ganz besonderer Sachwalter der Lehrerinteressen bewiesen hat). Er hat eine Expertise für die Deutsche Telekom Stiftung erstellt: "Die Lehrkräfte in Deutschland sind mit vielen nicht-pädagogischen Aufgaben betraut, die Arbeitszeit und -druck erhöhen", schreibt Rackles in der Studie. Und weiter: »Wenn man das pädagogische Arbeitsvolumen erhöhen will, dann sollte man aber nicht an einer - kaum mehr vermittelbaren - Arbeitszeiterhöhung ansetzen, sondern an einer Entlastung etwa bei IT oder Verwaltung.« Er schlägt vor, die Lehrerarbeitszeit stärker nach Fächern und Schulstufen zu faktorisieren. Zudem sollte nicht wie jetzt eine Wochenarbeitszeit festgelegt werden, sondern eine Jahresarbeitszeit, von der dann Wochenenden und Ferien abgezogen werden. Er stellt fest, dass der tatsächlich erteilte Unterricht in Deutschland oft nicht viel mehr als ein Drittel der gesamten Arbeitszeit ausmache, denn die 22 bis 28 Pflichtstunden beziehen sich auf Unterrichtsstunden à 45 Minuten. Damit liegt Deutschland deutlich unter dem Schnitt der OECD-Länder. Dabei sei das Unterrichten doch die Kernaufgabe von Lehrkräften. Das Deputatsmodell sei aus der Zeit gefallen, sagt deshalb auch Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Telekom Stiftung: "Wir können uns nicht länger ein System leisten, das so ineffizient mit der wertvollen Arbeitszeit von Lehrkräften umgeht. Der besorgniserregende Abwärtstrend der Schülerleistungen, insbesondere bei den Grundkompetenzen, aber auch der Lehrkräftemangel fordern ein entschiedenes, aber durchdachtes Gegensteuern."
Ganz im Einfluss dieser Studie scheint die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit der Lehrkräfte in einigen Bundesländern Anlass zu sein, das angeblich veraltete Deputatsmodell mit der häuslichen Vertrauensarbeitszeit, das auf einem tradierten Rollenverständnis des Lehrberufs beruhe, zu überwinden und zu modernisieren.
So hat das Land Bremen angekündigt, zukünftig die Arbeitszeiten von Lehrkräften erfassen zu wollen. Dazu sollen gemeinsam mit den Interessenvertretungen zunächst ausgewählte Pilotschulen an einem Projekt der Telekom Stiftung (!!) zur Arbeitszeiterfassung teilnehmen. Die Bremer Bildungssenatorin als "Arbeitgeberin" spricht von modernen, gerechten, flexiblen Arbeitszeitmodellen, die viel Potenzial für Innovationen hätten.
In Hessen hatten sich die Koalitionspartner Ende des vergangenen Jahres darauf verständigt, im Bundesland die Arbeitszeiterfassung einzuführen. Wie genau die entsprechenden Regelungen aussehen werden und wann die Arbeitszeiterfassung für Lehrer in Hessen tatsächlich kommen wird, ist allerdings noch völlig offen.
Wie passt die Arbeitszeiterfassung auf Grundlage der geltenden Arbeitsschutzgesetze zum Wunsch vieler Beschäftigter nach flexibleren Arbeitszeitmodellen, nach Vier-Tage-Wochen, individuellen Arbeitszeitvereinbarungen, dem Wunsch nach Verlängerung oder gar Aufhebung der Kernzeiten, nach Homeoffice oder mobilem Arbeiten? Prinzipien der Work-Life-Balance oder Work-Life-Integration (wie zum Beispiel das Work-Life-Blending) rücken gesellschaftlich immer mehr in den Vordergrund.
Vorreiter für flexible Arbeitszeitmodelle ist der Lehrberuf mit seinen festen Unterrichtsstunden und Aufgaben vor Ort, den außerunterrichtlichen Aktivitäten und seiner häuslichen Vertrauensarbeitszeit (Homeoffice) schon ganz lange. Die vielen Vorteile, auch im Hinblick auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sind bekannt. Dies trägt sicher nicht unwesentlich zur Attraktivität des Berufs bei. Andererseits birgt dieses Arbeitszeitmodell auch die Gefahr der ständigen Erreichbarkeit, Selbstausbeutung, unbezahlter Überstunden, Isolierung, Stress und Druck infolge zu hoher Anforderungen und einer verschwimmenden Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Das ist im Lehrberuf nicht anders als in allen anderen Bereichen mit verantwortungsvollen, herausgehobenen Tätigkeiten. Hier gilt es anzusetzen und zwischen Personalräten und Dienststellenleitern Dienstvereinbarungen abzuschließen, um die Risiken des flexiblen Arbeitens in den Griff zu bekommen und zu minimieren. Hier kann die Arbeitszeiterfassung ein sehr hilfreiches Instrument sein. Um Arbeitszeitentlastungen zu schaffen, müssen sich Rahmenbedingungen ändern. Die Erfassung der Arbeitszeit per se verringert ja nicht die Aufgaben und Tätigkeiten, sondern ist letztlich ein weiteres bürokratisches "On top". Politisch geforderte Zusatzaufgaben, die Schulen und Lehrkräfte leisten sollen, müssen mit Zeitkontingenten und echtem Personal hinterlegt werden.
Keinesfalls darf die Arbeitszeiterfassung dazu missbraucht werden, in Zeiten von Lehrermangel Unterrichtskapazitäten nach Haushaltslage zu generieren und letztlich dazu führen, dass in einem starren System Lehrkräfte rund um die Uhr kontrolliert werden und statt weniger noch mehr unterrichtet und gearbeitet werden muss - und das im Extremfall auch noch nur an einem Ort: dem verpflichtenden Arbeitsplatz Schule.
Leitartikel von Dagmar Bär, stellv. bpv-Vorsitzende (aus GiB 04_2024)