Durch die Umstellung vom Staatsexamen auf Bachelor und Master sowie die Verkürzung des Referendariats von 24 auf 18 Monate habe die Lehrerbildung in Nordrhein-Westfalen seit 2009 massiv gelitten, kritisiert die Vorsitzende des dortigen Philologenverbands, Sabine Mistler. Das angekündigte Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Lehrermangels sorge vornehmlich bei Lehrkräften mit Sek-II-Fakultas für Unmut und Verzweiflung. Im Gespräch für die Ausgabe 2-2023 der bpv-Verbandszeitschrift "Das Gymnasium in Bayern" (GiB) ordnet die Verbandschefin ein, wie sich die Maßnahmen und die Reform der Lehrerbildung auf die Schulen und Lehrkräfte im bevölkerungsreichsten Bundesland auswirken.
GiB Frau Mistler, wenn Sie an Ihre eigene Lehrerausbildung denken: Auf was möchten Sie rückblickend nicht verzichten?
S. Mistler Ich möchte die Freiheiten nicht missen, die ich in meiner universitären Ausbildung bei der Wahl der Seminare und Vorlesungen hatte. Ich hatte eine intensivere Studienzeit im Vergleich zu den Studierenden heute, weil die freie Auswahl an Veranstaltungen größer war. Dadurch war ein größerer Kontext im Zusammenhang mit der Inhaltsorientierung und der Vertiefung der Fachlichkeit gegeben. Durch die mit der Umstellung auf Bachelor und Master einhergehende Verschulung des Lehramtsstudiums ist das heute weniger möglich.
GiB Sie sprechen es an: 2009 gab es eine weitreichende Reform der Lehrerbildung in NRW, bei der u.a. das Studium auf Bachelor/Master umgestellt wurde. Wie wirkt sich das aus?
S. Mistler Wie bereits angesprochen sehen wir, dass durch die Verschulung des Studiums die Intensität an Fachlichkeit verloren gegangen ist. Diese Rückmeldungen hören wir von allen Schulen. „Wenn ich könnte, würde ich gerne den Referendaren auch eine Note für die Fachlichkeit geben“, meinte einmal ein Seminarleiter von einem ZfsL (Anm. d. Red.: Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung) auf die Frage, welche Änderungen er sich bei der Lehrerbildung wünsche. Ähnliche Rückmeldungen bekomme ich von den Kolleginnen und Kollegen an den Gymnasien. Sie vermissen oftmals vertiefte fachliche Kompetenzen der Referendare. Dadurch wird der Fokus auf die reine Umsetzungstätigkeit im praktischen Unterricht erschwert – stattdessen muss im Referendariat zum Teil noch das Fachwissen aufgeholt werden. Darüber hinaus fand in NRW fast zeitgleich mit der Umstellung auf Bachelor und Master ein Wechsel weg von rein inhaltlichen Zielen hin zur Kompetenzorientierung statt. Aus unserer Sicht könnte in der derzeitigen Lehrerbildung die Verknüpfung von Inhalten und Kompetenzen stärker ausgeprägt sein.
GiB Bei der Reform wurde auch das Referendariat von 24 auf 18 Monate verkürzt und ein Praxissemester eingeführt. Ein guter Schritt?
S. Mistler Die Kürzung des Referendariats halten wir für sehr kontraproduktiv – vor allem auch vor dem Hintergrund, dass derzeit die Ausbildungszeit zu kurz kommt, weil durch die Verschulung mit Bachelor und Master nicht nur die Fachwissenschaft, sondern auch die Fachdidaktik leidet. Derzeit läuft die in der universitären Ausbildung vermittelte Didaktik nicht mit der schulischen Realität synchron. Darüber hinaus ist das verkürzte Referendariat phasenweise mit enormem Stress für die Anwärter verbunden. Das Praxissemester wiederum begrüßen wir, da es wichtig ist, dass die angehenden Lehrerinnen und Lehrer durch Praktika frühzeitig an die Schulen kommen und bereits im Studium mehr Einblick in die Praxis erhalten. Ich selbst habe während meines Studiums in Berlin ein Praxissemester absolviert und dieses als sehr gewinnbringend empfunden. Diese Rückmeldung erhalten wir nun auch von den Studierenden. Das Praxissemester ist eine gute und wichtige Sache, auch wenn man beachten muss, dass die Studierenden bei ihrem Einsatz an den Schulen besonders betreut werden müssen, was eine zusätzliche Aufgabe für die Lehrkräfte vor Ort bedeutet. Was wir uns wünschen, sind ein Praxissemester und ein 24-monatiges Referendariat. Zudem muss die Ausbildung der Lehramtsanwärter auf Schulhalbjahre bezogen erfolgen. Derzeit läuft das asynchron. Dadurch ist es schwieriger, die Referendare in den Schulalltag zu integrieren und auch für die Schülerinnen und Schüler ist die Situation unglücklich.
GiB In Bayern wird diskutiert, die Lehrerbildung – zumindest in den ersten Studiensemestern – zu vereinheitlichen, um Lehrkräfte flexibel an den Schularten einsetzen zu können. Wie schätzen Sie die Überlegung ein?
S. Mistler Eine schulformübergreifend einheitliche Lehrerausbildung wird aus unserer Sicht den Ansprüchen der unterschiedlichen Schulformen nicht gerecht. Schließlich sind die Anforderungen in der Primarstufe nicht vergleichbar mit denen der Sekundarstufe II. Insofern ist es auch schwierig, wenn Sek-II-Lehrkräfte als abwärtskompatibel und universell an jeder Schulform einsetzbar angesehen werden. GiB Stichwort Gesamtschulen: Die gibt es in Bayern so gut wie nicht. Welche Erfahrungen machen Sie? S. Mistler Das Problem ist, dass in NRW oftmals Schulformen des differenzierten Systems zugunsten von Gesamtschulen weichen müssen. Die Eltern haben somit keine echte Wahlfreiheit. Verschärft durch ein vorgezogenes Anmeldeverfahren, das mehrheitlich Gesamtschulen durchführen dürfen, treten Gesamtschulen und Gymnasien vielerorts in Konkurrenz. So müssen oftmals die Gymnasien Schüler aufnehmen, die keine gymnasiale Empfehlung haben und auch nach der Erprobungsstufe ist es sehr schwierig, Schüler an einer Gesamtschule unterzubringen, für die die gymnasiale Laufbahn eher nicht geeignet ist. Nicht selten wechseln auch Schüler von Gymnasien an eine Gesamtschule, um einen besseren Abiturdurchschnitt zu erreichen.
GiB NRW fehlen Tausende Lehrkräfte. Die Landesregierung hat ein Maßnahmenpaket gegen den Unterrichtsausfall auf den Weg gebracht. Sind Sie damit zufrieden?
S. Mistler Das Maßnahmenpaket muss aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Insgesamt können wir sagen, dass mit dem Paket der Unmut und die Verzweiflung der Kolleginnen und Kollegen gewachsen sind. Das liegt daran, dass diese sich in den Themen Wertschätzung und Entlastung nicht wiederfinden. A13 wurde für die Lehrkräfte der Primarstufen und Sek-ISchulen politisch entschieden. Ein Wahlversprechen! Die Alltagshelfer sind für die Grundschulen gedacht und den Ersatz einer Klassenarbeit mit den ZP-10 (Anm. d. Red.: zentrale Prüfungen der Klasse 10) finden wir problematisch. Das stellt für uns weniger eine Entlastung als vielmehr einen Qualitätsverlust dar. Was wir dagegen als hilfreich ansehen, sind die Verwaltungsassistenten – wenn sie denn auch von der Verwaltungsarbeit entlasten. Gleichwohl müssen an dieser Stelle noch mehr Entlastungen erfolgen.
GiB Wie stehen Sie zur Beschneidung der Genehmigung der voraussetzungslosen Teilzeit und den angedachten Verschärfungen bei Abordnungen?
S. Mistler Die sehen wir sehr kritisch. Die Möglichkeit der voraussetzungslosen Teilzeit soll stark eingeschränkt werden. Das bedeutet für Lehrkräfte, die keine Kinder unter 18 oder zu pflegende Angehörige haben, dass sie künftig mit einer vollen Stelle arbeiten müssen. Viele dieser Lehrkräfte verzichten auf Gehalt und Pensionsanteile, weil sie den Belastungen nicht mehr standhalten können. Wir befürchten, dass dies zu Demotivation und höheren Krankenständen führen wird. Die drohenden Abordnungen werden ebenfalls mit großer Sorge gesehen – vor allem, wenn diese an eine andere Schulform erfolgen sollen. Gymnasiallehrkräfte sind für die besonderen Herausforderungen an Grund- und Förderschulen nicht ausgebildet. Unser Bildungsauftrag ist die Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler studierfähig zu machen. Daher fühlen sich viele gymnasiale Lehrkräfte nicht für die Arbeit an Förder- und Grundschulen berufen.
GiB Mit Ihren Erfahrungen: Was raten Sie Bayerns Verantwortlichen für die Lehrerbildung?
S. Mistler Das Wichtigste ist das Staatsexamen und darauf zu achten, dass die vertiefte Fachlichkeit im Mittelpunkt steht. Unsere Erfahrung mit Bachelor und Master zeigt, dass die Fachlichkeit unter der Verschulung sehr leidet. Die Fachdidaktik aus dem Studium sollte stark an eine realitätsnahe Fachdidaktik angelehnt sein und das Referendariat müsste jeweils zum Halbjahr oder Schuljahr begonnen werden. Zudem sollte die Tatsache anerkannt werden, dass die Lehrämter durchaus differenziert werden müssen, da Arbeit und Aufgaben sehr große Unterschiede aufweisen.
GiB Vielen Dank für das Gespräch!